Melina war ein kleines Mädchen. Trotz
ihres jungen Lebens hatte sie mehr schlimme Dinge erfahren, wie mancher, der
ein langes Leben hinter sich hat. Ihren Vater kannte sie nicht. Die Mutter
hatte ihre kleine Tochter zwar sehr lieb, aber sie kümmerte sich kaum um sie.
Egal ob Melina essen wollte, ob sie fror, oder Trost brauchte, immer wurde sie
von der Mutter weg geschoben. Geregelte Essenszeiten kannte Melina nicht. Sie
bekam nur unregelmäßig mal mehr, mal weniger zu essen. Oft vergaß die Mutter
ganz einfach, dass es sie überhaupt gab. Denn die Mutter nahm Drogen. Deshalb
kannte Melina ihre Mama meist als eine Frau, die nicht angesprochen werden
konnte.
Darum redete Melina nicht mit ihrer
Mama. Sie hatte sich angewöhnt, auch mit anderen nicht zu reden. Stumm sein,
schien ihr die beste Möglichkeit, mit den Anforderungen der Welt
zurechtzukommen.
Als sich das Jahr langsam wieder
neigte und es wie jedes Jahr auf Weihnachten zuging, erklärte die Mutter ihrer
Tochter, dass Weihnachten ausfallen müsste. Melina verstand nicht, was die
Mutter damit meinte. Aber sie ahnte, dass sie wohl keine Weihnachtsgeschenke
bekommen würde. Als Melina dann wieder einmal alleine zu Hause war, saß sie in
der winzigen Küche am Fenster und sah hinaus wie weiße, große Flocken wie
feiner Staubregen zur Erde wirbelten. Melina stellte sich vor, die
Schneeflocken wären kleine verzauberte Prinzessinnen in wunderschönen weißen
Kleidern. Sie malte sich aus wie es
wäre, wenn eine dieser Prinzessinnen mit ihr befreundet sein wollte. Wie von
selbst öffnete Melina das Fenster und streckte ihre kleinen Hände hinaus. Sie
spürte die bittere Kälte nicht. Stattdessen freute sie sich über die
Schneeflocken, die ihre Hände berührten. Da geschah es, dass eine besonders
große Flocke auf der Hand sitzen blieb, ohne zu schmelzen. Melina wartete eine
Weile, doch nichts geschah. Die Schneeflocke blieb wo sie war. Da zog Melina
ihre Hand samt der Schneeflocke hinein in die warme Stube. Sie schloss das
Fenster und betrachtete die Schneeflocke. Statt zu schmelzen verwandelte sich
die Flocke auf einmal in ein winziges bezauberndes Wesen, mit langen, hell
schimmernden Haaren und einem brautähnlichen weißen Kleid. Sie hatte durchaus
Ähnlichkeit mit einer wunderschönen Braut. Melina war so baff, dass sie vergaß,
dass sie eigentlich schon lange nicht mehr sprach. Sie fragte das bezaubernde
Geschöpf: „Wer bist du denn?“ „Ich bin eine Schneeflocke und heiße Finia“. „Und
wieso schmilzt du dann nicht?“, wollte Melina wissen. „Weil ich keine
gewöhnliche Schneeflocke bin.“, flüsterte Finia geheimnisvoll. „Ich bin eine
Zauberflocke“. „Aha“, macht Melina. „Was zauberst du denn so?“ Finia lachte. Es
klang wie das Geläut eines winzigen silberhellen Glöckchens. „Ich verzaubere
Kinder.“ Vor lauter Schreck hätte Melina die Schneeflocke beinahe fallen
gelassen. „Keine Angst“, beruhigte sie Finia schnell. „Ich tu dir schon nichts.
Ganz im Gegenteil: Ich helfe dir“. Melina seufzte. „Wie willst du das denn
machen?“ Filinia gluckste wieder. „Du wirst schon sehen.“, versprach sie. „Auf
jeden Fall will ich deine Freundin sein. Willst du das?“ „Au ja“, freute sich
Melina. „Eine Freundin wäre fein.“
Plötzlich hörte Melina wie ihre
Mutter zurückkam. „Schnell, lass mich wieder nach draußen“, bat Finia da. „Aber
dann bist du wieder fort und ich seh dich nie wieder“, warf Melina ein. „Hab
keine Angst“, meinte Finia, „ich komme wieder. Du musst nur achtgeben, wenn es
wieder schneit. Dann bin ich wieder unter den Flocken.“ Melina seufzte. Dann
machte sie das, was die Schneeflocke von ihr verlangte. Sie öffnete das Fenster
und schnippte sie nach draußen. Keine Sekunde zu früh. Denn schon stand ihre
Mutter in der Tür. Sie hatte diesmal keine Drogen genommen. „Mama“, sagte
Melina. Sie merkte gar nicht, dass sie noch immer redete und ganz vergessen
hatte, wieder so stumm wie sonst zu sein. Vor lauter Überraschung blieb die
Mutter wie angewurzelt stehen. Dann nahm sie Melina in die Arme. „Meine Kleine“,
freute sie sich. „Du kannst ja reden.“
Die Mutter war so glücklich, dass sie
schwor, von nun an keine Drogen mehr zu nehmen. Daran hielt sie sich auch.
Stattdessen bekam Melina an diesem Weihnachtsfest doch noch ein Geschenk und
eine Mama, die sich von nun an immer um sie kümmerte. Und manchmal, wenn es
schneite, stand Melina am Fenster und schaute in den Flockenwirbel. Sie wusste,
dass sie da draußen eine Freundin hatte, die es sehr gut mit ihr meinte.
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