Er saß schon lange da auf den
Eingangsstufen der großen Kirche. Ein alter Mann mit dichtem weißen Bart und
einem roten Mantel. Die rote Zipfelmütze hatte er tief ins Gesicht gezogen, um
sich so vor der eisigen Kälte zu schützen. Wenn jemand an ihm vorüberging, hob
er den Blick und versuchte dem Passanten in die Augen zu schauen. Meistens
vergebens. Denn die Vorübergehenden hasteten eilig vorbei, zielstrebig in die
Büros, die Kaufhäuser, oder nach Hause. Dorthin wo es warm war. Wo es eine
Heizung gab und sie nicht der eisigen, klirrenden Kälte ausgesetzt waren. Kaum
jemand verschwendete einen Blick, oder gar einen Gedanken an den bibbernden,
vor Frost starrenden Alten im durchscheinenden, roten Mantel. Wer seinen Blick
auffing, stutzte für einen Moment, mancher wurde unsicher, kramte in seiner
Tasche, oder im Geldbeutel nach ein paar Münzen und wollte sie in den
bereitgestellten Hut, oder was auch immer werfen. Auf der Suche nach einem
solchen Gefäß hielten sie die Münzen unschlüssig in der Hand, schauten darauf,
als wüssten sie nicht wie die Geldstücke in ihre Hände gelangt wären, zögerten
kurz und – je nach Temperament – drückten sie die Münzen dann dem Alten in die
Hand, oder aber sie steckten sie wieder zurück, nachdem sie nichts fanden, in
das sie die wenigen Cents werfen konnten. Sie zuckten mit den Schultern und
gingen ihrer Wege. Der Alte war schon vergessen. Er gehörte nicht zu ihrem
Leben. Natürlich nicht. Wie sollte er auch. Der alte Mann saß stattdessen
weiter auf den großen breiten Stufen und wartete. Worauf er wartete, hätte er
wohl selbst nicht zu sagen vermocht. Doch wenn er etwas gelernt hatte in seinem
Leben, dann, dass es sich lohnt zu warten. Denn er hatte viel Schlimmes erlebt
im Leben. Er war aus einem fremden Land nach Deutschland gekommen. In seiner
Heimat herrschte Krieg. Soldaten hatten seine Frau und seinen Sohn umgebracht. Sein Haus war zerstört worden. Er konnte nicht mehr bleiben und er flüchtete. Weg, irgendwohin in ein Land ohne Mörder und ohne Angst. Irgendwann war
er dann nach Deutschland gelangt.
Obwohl er längst geglaubt hatte,
dass alles zu Ende sein müsste, war es weitergegangen. Es lohnt sich, einfach
darauf zu warten, dass es weiter geht und dass es besser wird. Irgendwie musste
es einfach besser werden.
Der alte Mann saß da und wartete.
Er schaute hinauf zum Himmel und sah wie langsam der erste Schnee aus dicken
Wolken fiel. Die Flocken glitten zeitlupengleich und mit Bedacht zur Erde, so
als wollten sie den alten Mann behutsam auf den für ihn ungewohnten Winter
einstimmen. Die Kinder jauchzten und freuten sich. Der alte Mann aber zog
seinen roten Mantel noch fester um die ausgemergelten Schultern. Langsam wurde
es dämmrig, die ersten Lichter hüllten die Stadt in einen adventlichen Glanz.
Trotzdem blieb der Mann wo er war. Er wartete.
Da tauchte plötzlich ein anderer
Mann auf. Er hieß Ben Meier und hatte gerade Feierabend. Ben sah den Alten und
ging auf ihn zu.
„So sieht der Nikolaus aus“, sagte er mehr zu
sich selber als zu dem Mann. „Nur nicht ganz so mager.“ Er begann mit dem Mann
zu reden. Der Alte verstand ihn nicht wirklich, denn er konnte kaum Deutsch. Ben
fragte ihn: „Wie heißt du?“ „Nikolaos“, kam die Antwort. Da hatte Ben eine
Idee: „Du bist heute mein Gast. Meine Familie wartet auf den Nikolaus. In
diesem Jahr machen wir es einfach mal anders: Statt dass der Nikolaus mit
Geschenken zu uns kommt, beschenken wir den Nikolaus.“
Genau so machte er es. Das Warten hatte sich für den alten Mann
gelohnt.
Die Kinder der Familie Meier
fanden es sehr, sehr aufregend, einen
Mann aus einem ihnen unbekannten Land kennenzulernen. Sie lauschten gebannt
seinen Geschichten. Sie verstanden zwar nur wenig, denn Nikolaos musste immer
wieder nach Worten suchen. Aber die Kinder freuten sich sehr über den
interessanten Gast. Als sie an diesem Abend zu Bett gingen, dachten sie noch
lange über den Mann mit dem Namen „Nikolaos“ nach. Ob er wohl mit dem
„richtigen Nikolaus“ verwandt war? Der kam ja auch nicht aus Deutschland und
hieß fast genauso. Vor lauter Denken schliefen sie allmählich ein und in ihren
Träumen wurde aus Nikolaos mit einem Mal ein strahlender Bischof ganz so wie
einst der Bischof Nikolaus.
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